Ich wurde von Regen geweckt - oder war es eher das, was der Regen mit sich brachte?
Ich wusste es nicht, aber als ich die Tropfen sah, die silbrig schimmernd über meine Rüstung rannen, und aus dem Großen Nebel da oben fielen, wurde mir sofort klar, dass die Protodermis wahrscheinlich etwas neues im Sinn hatte, und beschloss aufzustehen und mich in meiner neuen Welt umzusehen.
Das Bruchstück auf dem ich mich befand, war mit Gras bewachsen und wirklich sehr groß, bestimmt mehrere Kilometer lang und breit. Agori oder Glatorianer sah ich überraschenderweise keine, wo waren sie geblieben?
Nur in einer Richtung konnte ich sehen, wo die Insel endete. Interressiert ging ich zum Rand, und blickte hinunter. Die bodenlose Tiefe in die ich hinabstarrte ließ mich schwindelig werden, sodass ich mich etwas hinsetzen musste.
Doch das Schwindelgefühl hörte nicht auf... und als ich die Tropfen des Regenfalls sah, die durch meine Rüstung hindurch in meinem Fleisch versickerten wurde mir klar, dass der Blick über die Kante rein gar nichts damit zu tun gehabt hatte.
Im nächsten Moment fühlte ich furchtbare Schmerzen. Ich wälzte mich in Krämpfen am Boden, ich fühlte wie sich mein Körper veränderte, aber irgendwie machte es mich glücklich.
Ich erinnerte mich an einen Agori vor einigen Monaten, der aus Versehen etwas Energieprotodermis auf seine Hand hatte tropfen lassen und sofort verschwunden war. Es war einer der schockierendsten Anblicke in meinem Leben. Dies hier bedeutete also, dass ich nicht verschwinden, sondern mich verwandeln würde, und darüber war ich eigentlich ganz froh. Die Pein war zu groß, als dass ich meine Augen hätte offen lassen können, aber langsam verebbten die Schmerzen und ich blieb keuchend auf dem Boden liegen. Ich fürchtete mich ein wenig davor, was wohl aus mir geworden war.
Was wäre, wenn ich zu zu einem Monster geworden war, zu einer Bestie?
Langsam stand ich auf und begann, mit geschlossenen Augen, meinen neuen Körper zu betasten. Ich merkte, dass sich erstaunlichweise nicht viel verändert hatte. Meine Hände waren noch von selber Form und Größe, meine Beine auch, ebenso wie mein Torso. Doch dann fühlte ich zwei senkrechte Rillen in Meinem Rücken, beide direkt nebeneinander. Nun öffnete ich meine Augen wieder, und das hätte ich wohl sofort tun sollen, den ich nahm gleich mehreres auf einmal wahr:
Zum ersten trug ich eine neue Rüstung. Sie unterschied sich nicht allzu sehr von der, die ich im Krieg getragen hatte, aber - ich konnte sie nicht ausziehen. Sie war mit meinem Körper verwachsen, und schien auch um Einiges stabiler zu sein. Später würde ich mir darüber noch mehr Gedanken machen. Die Rillen an meinem Rücken waren anscheinend Löcher in diesem Panzer, ihren Ursprung konnte ich mir nicht erklären. Eventuell gehörten sie auch schon zum Verwandlungsprogramm.
Und außerdem war ich ein wenig größer geworden. Ich sprach ein paar Worte - gut, sprechen konnte ich noch, und meine Stimme klang normal, was bedeutete, dass auch mit meinen Ohren noch alles in Ordnung war.
Ich fühlte die Anwesenheit der Energieprotodermis, und wieder einmal wurde mir klar, wie sehr ich mich in ihr getäuscht hatte - sie war kein Etwas, dass Macht verlieh, sie
war die Macht.
Sie hätte uns am heutigen Tag (
oder war es gestern? Wie lief die Zeit nun überhaupt?)
alle sterben lassen können. Stattdessen hatte sie eine ganze Reihe von erstaunlichen Dingen getan. Sie hatte die Trümmer Spherus Magnas angehalten und stabilisiert, sodass es wieder ein Oben und ein Unten gab. Sie hatte uns eine Atmosphäre geschaffen, Luft die wir atmen konnten. Sie hatte mich verändert, höchstwahrscheinlich hatte sie mich an die neuen Verhältnisse angepasst. Nun musste ich andere Wesen finden - es konnte ja nicht sein, dass ich der einzige Überlebende war.
Und so machte ich mich auf den Weg, den Splitter zu erkunden.
KAPITEL 2
"Was ist passiert? Nun erzähl schon!", rief Tarduk und scharrte ungeduldig mit seinen Krallen im Sand.
Vastus lachte. "Was soll denn passiert sein? Erwartest du ein Abenteuer? Nun, die Wahrheit ist, dass ich auf ein Agori-Lager meines Stammes stieß. Die Bewohner des Lagers baten mich um Hilfe - "
"Hilfe?", unterbrach Tarduk. "Gab es auf dem Splitter ein Monster, dass sie bedrohte? Nun sag schon!"
"Nein", sagte Vastus. "Nichts dergleichen. Sie baten mich um Hilfe für den Aufbau eines neuen Dorfes. Sie tauften es Tesara."
Tarduk blickte überrascht auf. "Tesara? Aber wir sind doch hier in Tesara."
"Richtig", meinte Vastus. "Und genau hier kam ich auch damals an. Heute ist Tesara eine blühende Stadt, die größte auf diesem Splitter, Heimatstadt von tausenden von Agori. Aber vor einigen hundert Jahren war Tesara nur eine Idee, ein Traum von den Überlebenden meines Stammes. Ich half ihnen, diese Idee in die Tat umzusetzen, und heute bin ich immer noch hier - genau wie jeder andere."
"Die Sache mit deiner Rüstung hast du mir noch nicht erklärt. Was waren das für Löcher?"
"Ich zeige es dir", erwiderte Vastus. "Erschrick nicht."
Er erhob sich und schloss die Augen, schien sich angestrengt zu konzentrieren. Im nächsten Moment brachen zwei große Flügel aus seinem Rücken hervor. Tarduk schrie auf und rutschte ein paar Schritte zurück, woraufhin Vastus wieder anfing zu lachen. "Du kannst sie dir ruhig näher ansehen," sagte er. Zögerlich ging der Dschungel-Agori auf Vastus zu und betrachtete die Flügel. Sie hatten nichts mit den Flügeln eines Vogels gemein, und erinnerten auch nicht im geringsten an die Schwingen eines Sonnenfelsdrachens.
Sie waren filigran wie die eines Schmetterlings und strahlten in einem unnatürlichen Smaragdgrün. "Kannst du damit - fliegen?", fragte Tarduk beeindruckt.
"Natürlich kann ich das. Wozu sind Flügel denn sonst da?", entgegnete Vastus.
"Diese Flügel sind ein Wunder! Ich habe so etwas noch bei keinem in Tesara gesehen!", rief Tarduk. "Das ist einzigartig!"
"Das wissen wir nicht", widersprach Vastus, und seine Flügel begannen langsam wieder zu verblassen, bis nur noch zwei längliche Löcher in seiner Rückenpanzerung an sie erinnerten.
"Wenn es andere Splitter gibt, auf denen Agori leben, dann könnte es dort auch Glatorianer geben, denen das gleiche passiert ist, wenn der Regen auch dort fiel. Aber das werden wir niemals herausfinden."
"Warum nicht?", wollte der Agori wissen. "Warum machen wir keine Expedition durch den Nebel? Wir leben auf einer großen schwebenden Insel, von allen Seiten von diesem undurchsichtigen Schleier umgeben! Will denn keiner wissen, was außerhalb ist? "
"Viele wollten das wissen, Tarduk. Aber keiner, der im Nebel verschwand, kam je wieder zurück."